Gibt es unterschiedliche Schreibweisen in der keltischen und germanischen Tradition der Runenarbeit mit der Uruzrune?
Die Frage ob es denn nun Unterschiede in der keltischen und der germanischen Überlieferung der Runen gibt ist vermutlich so alt wie die Runen selbst. Ihre Beantwortung wird auch zu einem großen Teil davon beherrscht ob denn nun das Ogham-Alphabet ein eigenständiges Runensystem oder nicht doch eine völlig eigene Gattung antiker Schriftsysteme und symbolmagischer Lehrbildung darstellt. Lehrer die diese Frage bejahen – wofür es sicher viele schwerwiegende Gründe gibt – stellen uns dann die Ogham Stabzeichen als Sonderform von Runen vor. Sie bezeichnen die Ogham-Fide sogar als Runen, obwohl uns aus der keltischen Tradition heraus die Bezeichnung feda (plural) und fid (singular) für die einzelnen Stabformen des Ogham-Symbolsystems bekannt sind.
Es gibt daher aus meiner Sicht mindestes genau so viele, gute, richtige und bedeutsame Gründe das Ogham-Schriftzeichensystem als vollkommen eigenständiges Symbolsystem zu verstehen, das einer eigenständigen und von dem sonstigen Umgang mit den Runen abweichenden symbolmagischen Lehrsystem folgt – und den Schluß von Ogham Stabzeichen zu den von uns als Runen im engeren Sinne bezeichneten Schriftsystemen nicht mitvollziehen.
Einer der wichtigsten und wesentlichsten Gründe hierfür ist schlicht folgende Beobachtung: Die Runen folgen der Logik eines Alphabetsystems, sie werden – wie andere Alphabete – in einem linearen System, das auf der Platzierung der Symbole in einer zeilenartigen Schreibweise nebeneinander als klar abgegrenzte Symbole verwendet. Die Ogham-Stabzeichen werden dagegen in komplexen Ritzungen als Stababfolgen im Sinne von Binderunen geschrieben und haben – meines Wissens zumindest – keinen offiziellen schriftartigen Beleg, der eine andere Verwendung denn als Eingeweihtenschrift oder eben als symbolmagisches Sigilen-System nahelegen würde. Historisch belegt ist darüber hinaus die altirische Bezeichnung feda für die Symbole des Ogham-Alphabets (singular: fid), sodass ich dafür plädieren würde die einzelnen Symbole dieses durchaus interessanten und spannenden Symbolsystems entsprechend auch in unserer Zeit zu benennen.
Die Runen waren ihrerseits dabei weit mehr als nur ein heiliges Alphabet, das wie durch Zufall eben auf dem kontinentalen Europa entstanden ist. Sie sind eine kulturelle Technologie, die dem indogermanischen Einweihungsweg entstammen – und von Indien weg über die heutige Türkei bis nach Europa kulturgeschichtlich bezeugen. Es existiert dabei mehr als “nur” ein spezifisches System der Runenschrift – alleine die heute bekannten Runenalphabete bezeugen die Verwendung unterschiedlicher Runenalphabete, die großteils dieselben Symbole, aber auch lokal abweichende Überlieferungstraditionen und Runenbilder verwendet haben.
Somit beruht die Frage ob es denn nun spezifisch “keltische” oder spezifisch ”germanische” Runen gibt oder gegeben hat im Grunde genommen auf einem kulturgeschichtlichen Mißverständnis, das die Komplexität des germanisch-keltischen Zusammenlebens in Kontinentaleuropa, auf den britischen Inseln bis hin zu Island unterschätzt.
Den Unterschied zwischen Kelten und Germanen, erkennen wir an sich am einfachsten indem wir deren Geschichte von den Römern her, wo beide Völkerverbände uns zunächst in literarischer Form und in Caesars bekannten Kriegsberichten begegnen, die wir natürlich zunächst einmal als durchaus in Einzelfällen propagandistisch überhöhten Erzählung eines Heerführers verstehen müssen, die aber dennoch eine erstaunliche historische Detailtreue beinhalten. Es gab auf dem kontinentalen Europa also Römer (die nach Norden vorgedrungen sind), Germanen und Kelten – wobei Cäsar offenbar zunächst auf in Dörfern und Städten lebende Kelten getroffen sein dürfte. Erst später spricht er dezidiert von den Germanen und beschreibt sie als nomadisch lebende Verbände, die in der Kunst des Krieges wohlbewandert sind. Neben beiden Völkern gibt es dann in seinen Berichten noch die Druiden, die wohl als eine Art mystisch-magische Hohepriester und als eigener Stamm oder eigenes Volk von Eingeweihten die gesamte Szenerie des keltisch-germanischen Lebens bewohnt und in mehr als nur einer Kultur beheimatet gewesen sein dürften.
Eben jene Druiden könnten es gewesen sein, die die Runen als Teil einer hochentwickelten kulturgeschichtlichen Überlieferung vermutlich aus dem indischen Raum übernommen haben und an beide Völkerverbände (Kelten UND Germanen) vermittelt haben. Auffällig ist, dass das Aussehen der Druiden offenbar in Teilen bekannten indischen Brahmanen entspricht, die in weißen Zeremonial-Gewändern im Kontext des heutigen Hinduismus heilige Riten durchführen. Auch Cäsar berichtet von den Druiden als Angehörigen eines Art keltischen Adelskaste, was eine weitere kulturgeschichtliche Parallele zu den indischen Brahmanen sein könnte – wobei (und das muss klar angemerkt sein) hier für mich die Frage ist, ob Cäsar hier nicht römisches Denken und die Struktur der römischen Aristokratie unbewusst auf die von ihm als Kelten wahrgenommenen Völker projezierte. Soweit wir heute wissen, stellten die Druiden viel stärker eine eigenständige Größe im keltisch-germanischen Kulturkreis dar, die auf der britischen Insel Anglesey ein eigenständiges Rückzugs- und Hoheitsgebiet innehatten.
Wichtiger als die Frage ob es denn nun spezifisch keltische oder spezifisch germanische Runen gibt oder gab, ist aus meiner Sicht die Frage nach der Wirkungsweise der Runen als symbolmagisches Initiations- und Kraftsymbolsystem – das vermutlich in beiden Kulturkreisen bei Germanen und Kelten wohlbekannt und von beiden Völkern angewandt und verwendet wurde.
Tatsächlich gab es – mit Blick auf die Uruz-Rune – neben den bereits an anderer Stelle behandelten Runenformen in Futhark- und Futhoorc-Schriftsystemen – auch ein eigenständiges Ogham-Fid, das uns heute unter dem Namen Ur überliefert wurde. Von seiner Form her, sieht dieses fid aus wie drei waagrechte Balken, die vom Hauptbalken der feda durchkreuzt werden. In der Eingeweihtensymbolik erkennen wir hier, also die 3 Welten, die von der heiligen Urkraft durchstoßen (gleichzeitig aber auch verbunden) werden – und uns hier eine manifestierende Wirkung des Ur-Fids nahelegen.