Moderne Mystik
Phänomenologie eines zeitgemäßen Phänomens individueller Spiritualität
Mystik, Enlightment, Yoga, Advaita, Kontemplation, via cordis – es gibt zahlreiche geistliche Wege, die mit dem Thema Glaube und – wie wir sehen werden – Einheitserfahrung zu tun haben, und sich überdies einer ähnlichen spirituellen Methodik bedienen den Weg zu diesem Erleben des Göttlichen und der tiefen Verbundenheit zwischen allem Leben zu beschreiten. In der Definition-Serie wollen wir versuchen einmal hinter die verschiedenen Phänomene zu schauen, und uns sowohl ihre Unterschiede als auch ihre Gemeinsamkeiten vor Augen führen.
Spirituelle Standortbestimmung
Das deutsche Wort Mystik stammt, wie so oft, aus dem Griechischen. Das griechische Wort Mystikos meint zunächst nichts anderes als „geheimnisvoll“ und gerade die Offenheit für das göttliche Geheimnis – oder christlicher gesprochen: die Verborgenheit Gottes – ist eines der zentralen Kennzeichen für mystisches Erleben. Gleichzeitig gibt es aber keine allgemeingültige und abschließende Definition dafür, was wir unter dem Begriff Mystik zu verstehen haben. Mystik zielt eher auf die konkrete Erfahrung des Menschen als auf starre und dogmatische Glaubenssätze.
Historisch betrachtet hat dieser Fokus auf dem erlebbaren Glauben, dem aktiv sein auch auf der geistlichen Ebene, der Mystik in all ihren Ausprägungen oft die Häme und den Hass ihrer Kritiker eingebracht. Dies führte dazu, daß viele Mystiker sich dazu genötigt sahen ihre Lehre und ihren Glauben teils offen und teils im Verborgenen weiterzugeben. Bis zu einem gewissen Grad wurde im Laufe der Geschichte auf diese Art und Weise auch eine Art Geheimwissenschaft, die teilweise in Einweihungen und geheimen Ritualen im Verborgenen weitergegeben wurde.
Zudem müssen wir uns im Gedächtnis halten, daß wir es Angesichts der Mystik mit einem Phänomen zu tun haben, das sich nicht in eine allgemeingültige Definition pressen lässt. Ähnlich der Gnosis hat sich die Mystik in verschiedensten religiösen Glaubenssystemen herausgebildet. In verschiedenen Kulturen machten Menschen in unterschiedlichsten sozialen und historischen Kontexten ähnliche Erfahrungen von der Möglichkeit das Licht der Liebe Gottes in innerer, mystischer Schau unmittelbar zu erleben. Und diese Schau des göttlichen Lichts, wurde von ihnen in Worte gefasst, umschrieben und immer wieder gesucht. Auch die aus diesen Erfahrungen gezogenen Schlüsse waren durchaus ähnlicher Natur, sodaß sich Brahmanen, Suffis, Mönche, und buddhistische Gelehrte – ja sogar daoistische Lehrer oder Zenmeister – in ihrer Lehre und Glaubenspraxis oft erstaunlich ähneln – bei gleichzeitigem Vorhandensein tiefgehender Unterschiede in ihrem spirituellen Framework.
Mystik als erlebbare Realität zwischen Ekstase und Askese
Die Mystik als erlebbare Anwesenheit Gottes ist im Prinzip auf einer Ebene zwischen Exstase und Askese angesiedelt. Die spirituelle Erfüllung spielen in ihr eine ebenso große Rolle wie die Freiheit des Geistes von äußeren Zwängen und Gepflogenheiten. Die Mystik ermöglicht dem sie praktizierenden so einen Weg geistlicher Freiheit – auch in seiner (des Geistes) Verbundenheit mit der materiellen und körperlichen Welt. Eine zentrale Überzeugung vieler Mystiker lautet dabei schlicht: Es gibt das von Gott – in allen Dingen. Und so kann Gott auch in allen Dingen gefunden und erlebt werden.
Die Mystik ist selbst eigentlich kein Weg „nach Innen“. Sie bedient sich vielmehr des Weges nach Innen um das größtmöglichste und heiligste Äußere, Gott selbst, in allen Dingen zu finden und so die innere Verbundenheit mit der geistlichen Welt ungeachtet der äußeren Umstände aufrecht zu halten. Dabei geht es, ähnlich wie im Zen, auch darum, daß der Mystiker nicht danach strebt etwas zu erreichen oder zu erlangen, sondern im Zustand des All-eins-seins gewahr wird, daß er in der Verbindung mit Gott bereits alles hat, und ihm – mit dem christlichen Mystiker Meister Eckhart gesprochen: nichts nah und nichts fern ist. In der Fülle der Gnade Gottes erfährt der Mystiker sich also als bereits am Ziel jeder Reise und der großen geistlichen Pilgerschaft seines Lebens angekommen.